Argumente gegen Antisemitismus
Eine Kippa tragen, in der Schule von Chanukka erzählen, Hebräisch auf der Straße sprechen – das können Juden und Jüdinnen in Deutschland nicht ohne ein mulmiges Gefühl machen. Judenhass ist immer noch tief verwurzelt in unserer Gesellschaft. Deswegen decken wir hier zehn antisemitische Mythen auf, erklären, was daran problematisch ist und zeigen Dir, was Du dagegen sagen kannst.
Im Folgenden findest Du zehn verbreitete antisemitische Aussagen, die Erklärung, was daran problematisch ist und passende Gegenargumente. Ein Tipp vorweg: Am wichtigsten ist es, ins Gespräch zu kommen. Ob die Person, die Dir gegenübersitzt, am Ende versteht, wo das Problem liegt, hast Du nicht in der Hand. Aber wenn sie zwei oder drei gute Argumente mitnimmt, ist schon viel gewonnen.
Diese Argumentationshilfe haben wir gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank verfasst.
Zehn antisemitische Mythen – und was Du dagegen sagen kannst
Mythos 1: „Es ist schlimm, dass die Juden hier solche Angst haben, aber man muss halt auch sehen, was Israel macht.“
So kann das auch klingen:
„Bei der Politik Israels kann ich schon verstehen, warum man was gegen die Juden hat.“
„Ohne Israel gäbe es auch keinen Antisemitismus mehr.“
„Du (als Jude oder Jüdin) stehst doch auf der Seite von Israel.“
Was daran problematisch ist
Das klingt so, als würde das Handeln des Staates Israel rechtfertigen, dass Juden und Jüdinnen in Deutschland bedroht oder angegriffen werden.
Das kannst Du dagegen sagen
- Juden und Jüdinnen in Deutschland haben mit der Politik in Israel oder dem Krieg im Nahen Osten nichts zu tun. Sie haben hier ihren Lebensmittelpunkt, zahlen Steuern, spielen Fußball und treffen Freund*innen. Für das Handeln der Regierung von Benjamin Netanjahu tragen sie keine Verantwortung.
- Die Aussage dreht um, wer Täter*in und wer Opfer ist. Sie sagt: Juden und Jüdinnen in Deutschland sind gleichzusetzen mit Israel und deswegen für das Handeln der israelischen Politik mitverantwortlich. Im Umkehrschluss bedeutet das dann, dass sie dafür beschuldigt werden, die Angriffe auf sie auszulösen. Das ist absurd!
- Das ist sehr verletzend für Menschen, die in der Schule, im Netz und in ihrem eigenen Zuhause um ihre Sicherheit fürchten müssen. Sie fühlen sich im Stich gelassen und mit ihrer Angst allein. Im Oktober wurden an jedem einzelnen Tag 29 Angriffe auf Juden und Jüdinnen verübt. Wohnhäuser werden beschmiert, jüdische Gemeinden bekommen täglich Drohbriefe – und Menschen, die auf der Straße Hebräisch sprechen, werden angepöbelt und angegriffen. Seit Oktober verzeichnet die Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) so viele antisemitische Übergriffe wie nie zuvor seit Beginn der Statistik im Jahr 2015: Im Zeitraum vom 7. Oktober bis 9. November konnte RIAS fast 1000 antisemitische Fälle registrieren. Das ist ein Anstieg von 320 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Wo siehst Du den Zusammenhang zwischen Juden und Jüdinnen, deren Lebensmittelpunkt hier ist, und dem Handeln des Staates Israel?
- Kannst Du Dir vorstellen, was dieser Satz bei Juden und Jüdinnen auslöst?
Mythos 2: „Vielleicht sollten sie einfach keine Kippa tragen.“
So kann das auch klingen:
„Wenn die Juden und Jüdinnen nicht so anders wären, dann hätten sie auch kein Problem.“
„Ich habe nichts gegen Juden und Jüdinnen, aber Religion sollte Privatsache sein.“
Was daran problematisch ist
Das klingt so, als ob die Präsenz und Sichtbarkeit jüdischen Lebens die Probleme seien – nicht die Menschen, die die Juden und Jüdinnen angreifen.
Das kannst Du dagegen sagen
- Das Grundgesetz garantiert allen hier Lebenden die Freiheit des Glaubens und des religiösen Bekenntnisses. Wenn Juden und Jüdinnen in der Freiheit eingeschränkt werden, sich mit Symbolen ihres Glaubens zu zeigen oder in die Synagoge zu gehen, ist das eine Grundrechtsverletzung.
- Die Lösung des Problems kann nicht sein, dass sich Juden und Jüdinnen verstecken, sondern dass wir zusammen dem Antisemitismus in Deutschland entgegentreten.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Sollte nicht jeder Mensch in Deutschland die Symbole seiner oder ihrer Religion ohne Angst tragen können?
- Würdest Du das gleiche sagen, wenn jemand angegriffen wird, weil er oder sie in die Kirche geht, ein Kreuz trägt oder an Ostern Ostereier sammelt?
Mythos 3: „Die sollen sich mal nicht so beschweren, die Juden, die haben doch so viel Geld und Macht.“
So kann das auch klingen:
„Die jüdische Lobby beeinflusst die Medien/die Wirtschaft/das Bankenwesen/die Welt (…).“
„Die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland sind eh von Israel gekauft.“
„Die jüdische Elite hat einfach viel zu viel Einfluss auf die Politik, vor allem in den USA.“
„Ja, aber Juden und Jüdinnen sind doch nicht arm.“
Was daran problematisch ist
- Hier geht es darum, Juden und Jüdinnen das Recht auf einen respektvollen Umgang mit ihnen abzusprechen, indem man sie als böse, reich und mächtig darstellt. Zugleich wird ihnen unterstellt, Jüd*innen hätten sich in geheimer Weise zusammengeschlossen und verfügten über die Mittel, den Lauf der Welt entscheidend zu beeinflussen.
- In dieser Aussage sieht man eine typische Eigenschaft des Antisemitismus: Er schaut nicht nur auf Juden und Jüdinnen herab, sondern macht sie gleichzeitig zu etwas besonderem – etwas besonders Bösem. Oftmals wird dieser Antisemitismus dabei verschlüsselt – mit Begriffen wie „Eliten“, „Banker“, „Rothschilds“, „Soros“, „Ostküste“, „Mossad“ oder „Wallstreet-Eliten“ versehen. Dahinter steckt die Idee einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung, die die Welt im Geheimen lenkt.
- Das heißt auch: Juden und Jüdinnen müssen nicht wörtlich erwähnt werden, damit die Aussage antisemitisch ist. Es geht eher um die Erklärung, dass hinter allem Schrecklichen, was auf der Welt passiert, eine kleine Gruppe mächtiger Menschen steht – und diese Jüd*innen seien. Und dieses Pseudo-Denkmodell kann sehr attraktiv sein, weil unsere Welt komplex ist – statt echte, rationale Erklärungen zu liefern, schürt es jedoch Hass auf Juden und Jüdinnen.
Das kannst Du dagegen sagen:
Eine wichtige Sache vorweg: Es ist extrem schwer, dieses Pseudo-Erklärungsmuster zu entkräften, weil Änhänger*innen solcher Pseudo-Theorien hinter entlarvenden Gegenargumenten oft gleich die nächste Verschwörung vermuten. Es kann sein, dass es sich um ein so sehr geschlossenes Weltbild handelt, dass man gegen die immer weiter gesponnenen Erklärungen, wer nun dahintersteckt, einfach nicht ankommt.
- Bei dem Vorurteil, dass alle Juden reich und gierig seien, handelt es sich um eines der ältesten antisemitischen Motive, das sich bis heute fortgetragen hat. Einen historischen Ursprung hat es in der biblischen Erzählung rund um Judas, der Jesus laut Bibel gegen Geld an die Römer verraten habe. Heute ist es verwoben mit einer Verschwörungserzählung, die Juden für alles beschuldigt und sie gleichzeitig entmenschlicht.
- Für Juden und Jüdinnen in Deutschland – aber auch überall sonst auf der Welt – klingt diese Aussage völlig absurd. Juden und Jüdinnen leben überall auf der Welt und sind in allen Gesellschaftsschichten vertreten. In Deutschland beispielsweise sind sie mehrheitlich wirtschaftlich sogar eher schlecht gestellt. 65.000–70.000 der insgesamt 225.000 Juden und Jüdinnen in Deutschland leben in Armut. Unter den jüdischen Zuwanderer*innen aus der ehemaligen Sowjetunion sind sogar 50 % der Rentner*innen auf Grundsicherung angewiesen.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Es gibt doch auch christliche oder buddhistische Chefredakteur*innen, muslimische Investmentbanker*innen und säkulare Politiker*innen. Warum denkst Du, wird die Religionszugehörigkeit nur herausgestellt, wenn es sich um Juden*Jüdinnen handelt? (Religion sollte Privatsache sein.)
- Die drei reichsten Menschen der Welt (Elon Musk, Bernard Arnault und Jeff Bezos) stammen aus christlichen Familien. Würdest Du deshalb eine christliche Weltverschwörung vermuten?
Mythos 4: „Jetzt konsequent abschieben, dann ist das Antisemitismus-Problem gelöst!“
So kann es auch klingen:
„Wenn wir nicht so viele Muslim*innen ins Land gelassen hätten, gäbe es gar kein Problem mit Antisemitismus in Deutschland.“
„Muslim*innen an sich sind antisemitisch“
„Das liegt ja in deren Kultur/Religion.“
„Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, aber die nicht.“
Was daran problematisch ist
- Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Aussage legt jedoch nahe, dass nur migrantisierte Menschen – oft sind hier Muslim*innen gemeint – antisemitisch seien. So entbindet die Aussage den Rest der Deutschen von jeglicher Verantwortung und lenkt davon ab, dass Antisemitismus seit Jahrhunderten in der deutschen Gesellschaft verankert ist.
- Gleichzeitig werden hier alle Muslim*innen bzw. Araber*innen implizit des Antisemitismus bezichtigt. Das ist eine unzulässige Pauschalisierung.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Laut der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 stimmen beispielsweise 20 Prozent der Deutschen der Aussage „Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ zu. Große Teile der deutschen Gesellschaft haben ein Antisemitismusproblem, nicht nur Muslim*innen oder Araber*innen.
- Noch deutlicher wird das gesamtgesellschaftliche Problem bei der Aussage: „Reparationsforderungen an Deutschland nutzen oft gar nicht den Opfern, sondern einer Holocaust-Industrie von findigen Anwälten“. Da stimmen sogar über 40 Prozent der Befragten zu.
- Das bedeutet: Antisemitismus ist leider weit verbreitet in unserer Gesellschaft, und wir alle haben die Verantwortung, etwas dagegen zu unternehmen. Und: Die Antwort auf Antisemitismus kann nicht Rassismus sein – und umgekehrt.
- Auch historisch gesehen ist die Idee des angeblich importierten Antisemitismus mehr als fraglich, so waren es gerade NS-gesteuerte Radiosender, die antisemitischen Antizionismus und antisemitische Verschwörungserzählungen in Nordafrika und im östlichen Mittelmeerraum auf Türkisch, Arabisch und Persisch verteilten.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Meinst Du nicht, dass Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist?
- Würdest Du Hubert Aiwanger, Björn Höcke oder Hans-Georg Maaßen auch abschieben lassen? Wenn ja, wohin denn?
- Kannst Du Dir vorstellen, welche Auswirkung dieser Satz bei muslimischen Deutschen haben kann?
- Wie fühlt es sich für Juden und Jüdinnen an, wenn behauptet wird, es gäbe nur muslimischen Antisemitismus – und ein Großteil der Gesellschaft habe damit nichts zu tun?
Mythos 5: „In Deutschland darf man Israel nicht kritisieren.“
Was daran problematisch ist
- Die Aussage suggeriert ein Sprechverbot, das es nicht gibt. Sie impliziert, dass es jemanden geben würde, der es verbietet, kritisch über Israel oder den Nahost-Konflikt in Deutschland zu reden. Dabei lässt sie absichtlich im Dunkeln, wer genau das vermeintliche Verbot ausspricht und durchsetzt. Das lässt Platz für Interpretationen und Vermutungen von Verschwörungen.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Es stimmt: In Deutschland wird viel und kontrovers über Israel diskutiert. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist sehr präsent gegenüber anderen Brennpunkten in der Welt.
- Das Beste, um dem Vorwurf eines Sprechverbots entgegenzuwirken, ist, zu zeigen, was legitime Kritik ist und was die Grenze zur Diskriminierung oder zum Antisemitismus überschreitet.
Das geht: - Israels Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu ist aus mehreren Gründen problematisch. Einzelne Minister*innen sind klar dem Rechtspopulismus oder Rechtsextremismus zuzuordnen. Sie verfolgen antidemokratische Ziele, wollten zum Beispiel 2023in diesem Jahr die israelische Gewaltenteilung mithilfe einer sogenannten „Justizreform“ aushebeln und ein Gesetz gegen die LGBTIQ+-Community erlassen. Das kann klar kritisiert werden.
- Die Besatzung des Westjordanlands ist einer der Punkte, die einen palästinensischen Staat verhindern und unter dem die palästinensische Zivilbevölkerung stark leidet. Dass die israelische Regierung die Siedler*innen gewähren lässt und völkerrechtswidrige Siedlungen schützt und finanziert, ist einer der großen Gründe, weswegen eine friedliche Lösung mit den Palästinenser*innen derzeit kaum möglich ist.
- Natürlich ist es auch legitim, Kritik an Israels militärischem Vorgehen in Gaza zu äußern. Die Lage der Zivilbevölkerung dort ist äußerst dramatisch und durch nichts zu beschönigen. Und deswegen ist es völlig angemessen, das israelische Militär dort zu kritisieren, wo es die Menschen fahrlässig in Gefahr bringt.
Das überschreitet eine Grenze: - Vorgebliche „Kritik“ an Israel ist dann antisemitisch, wenn klassisch-antisemitische Chiffren und Kodierungen à la „Blutsauger“, „Kindermörder“, „Kraken“, „Strippenzieher“ und weitere Dehumanisierungen benutzt werden. Folglich ist es antisemitisch, Netanyahu als Kindermörder darzustellen.
- Es ist antisemitisch, zu sagen, dass Israel kein Recht habe zu existieren. Das gleiche gilt für Aussagen, die andeuten, dass Juden und Jüdinnen in der Region nichts zu suchen hätten. Das passiert leider oft indirekt, beispielsweise, indem die Hamas als Befreiungsorganisation bezeichnet wird, oder es so klingt, als verteidige sie sich nur gegen Israels Aggressionen.
- Wer Juden oder Jüdinnen auffordert, sich vom Staat Israel zu distanzieren, handelt antisemitisch, denn er setzt sie dadurch mit einem Staat gleich, für den sie nicht verantwortlich sind. Ebenso antisemitisch ist es, Juden und Jüdinnen mit einem Ausschluss zu drohen – beispielsweise von einer Kulturveranstaltung –, sollten sie sich nicht kritisch zur israelischen Politik verhalten.
Das ist strafrechtlich verboten: - Die Leugnung des Holocausts
- Hassrede, Gewaltaufrufe und Beleidigungen
- „From the river to the sea“: Die Parole erkennt Israel das Existenzrecht ab
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Wer oder was hindert Dich daran, Israel zu kritisieren?
Mythos 6: „Jetzt muss auch mal Schluss sein mit dem Schuldkult“
So kann es auch klingen:
„Wir müssen auch irgendwann mal einen Schlussstrich ziehen.“
Was daran problematisch ist
- Hier wird bewusst ein Widerspruch hergestellt: zwischen einem positiven Bezug auf Deutschland auf der einen und der Erinnerung an den Holocaust auf der anderen Seite. Und das dient einem klaren Zweck: Unter dem Vorwand, dass das Verhältnis zum eigenen Land nicht getrübt werden dürfe, wird die Erinnerung an die Shoa als überkommen dargestellt. Der kritische Blick auf sich selbst gehört nicht dazu. Deswegen wird der Begriff „Schuldkult“ von der extremen Rechten benutzt – auch gerne als Forderung, endlich einen „Schlussstrich“ zu ziehen.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ein Teil unserer Geschichte, von dem man sich nicht reinwaschen kann. Wer einen Schlussstrich fordert, sehnt sich dabei vielleicht nach einem patriotischen und stolzen Nationalgefühl. Deswegen wird diese Parole auch oft von Rechtsextremen benutzt – und ein „Schlussstrich“ unter dem Erinnern gefordert. Wir Deutschen sind jedoch moralisch dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Shoa sich nicht wiederholen kann.
- Max Mannheimer (1920-2016), Shoa-Überlebender, sagte: „[i]hr seid nicht schuld an dem, was war, aber verantwortlich dafür, dass es nicht mehr geschieht.“ Es geht nicht um Schuld, sondern um die Verantwortung, demokratische und pluralistische Gesellschaften zu schützen und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten – egal wo und wann.
- Für Überlebende des Holocaust und jüdische Familien, deren Familienmitglieder ermordet wurden, ist die Forderung, den Holocaust ad acta zu legen, extrem schmerzhaft, denn sie negiert ihr Leiden.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Warum ist Dir das wichtig? Was stört Dich daran, an die NS-Verbrechen zu erinnern?
- Weißt Du, dass der Begriff aus dem deutschen Rechtsextremismus kommt, um unseren demokratischen Diskurs zu schwächen?
Mythos 7: „Free Palestine from German guilt“
So kann es auch klingen:
„Deutschland ist blind wegen seiner Vergangenheit.“
„Deutschland ist total einseitig und erkennt das Leid der Palästinenser*innen nicht an, wegen der Shoah.“
„Warum müssen Palästinenser*innen für die deutsche Schuld büßen?“
„Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, aber die nicht.“
Was daran problematisch ist
- Die Aussage legt nahe, Deutschland würde aufgrund einer vermeintlichen Besessenheit mit dem Holocaust die Augen vor dem Leid der Palästinenser*innen verschließen.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Deutschland bekennt sich zur Existenz Israels und will für seine Sicherheit sorgen. Das hat nichts damit zu tun, eine Schuld zu begleichen, sondern bedeutet, Verantwortung wahrzunehmen: Juden und Jüdinnen sollen im Nahen Osten – und überall auf der Welt – sicher leben können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
- Gleichzeitig wird in Deutschland über die prekäre Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung nicht geschwiegen. Im Gegenteil: Medien und Politiker*innen machen deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung an erster Stelle stehen muss.
- Übrigens sind Jüdinnen und Juden nicht erst nach der Shoah nach Israel gekommen. Natürlich haben viele Überlebende des Holocausts Zuflucht in Israel gesucht, die Zuwanderung hat jedoch schon weit vorher begonnen. Zudem leben Juden und Jüdinnen seit hunderten und tausenden von Jahren auf dem Gebiet des heutigen Israels.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Wo und wie genau wirkt sich eine deutsche Schuld negativ auf Palästina aus?
- Wenn Deutschland blind ist, was das Leid der Palästinenser*innen angeht, warum erhöht die Regierung dann die Finanzhilfen für Palästinenser*innen und die Beiträge für das Flüchtlingshilfswerk der Palästinenser*innen (UNRWA)?
Mythos 8: „Die Zionisten nehmen den Palästinensern das Land weg.“
So kann es auch klingen:
„Israel ist ein Kolonialstaat.“
Was daran problematisch ist
- Statt die Komplexität des Konfliktes anzuerkennen, werden Juden und Jüdinnen gleichgesetzt mit „weißen europäischen Eroberern“. Die Aussage blendet aus, dass Juden und Jüdinnen seit hunderten und tausenden Jahren in der Region leben. Und sie klingt gezielt so, als hätten Juden und Jüdinnen kein Recht, dort zu leben – und Israel kein Recht, zu existieren.
- Demgegenüber wird die Hamas teilweise mit einer Befreiungsorganisation gleichgesetzt, die illegal geraubte Gebiete zurückerlangen will. Das verkennt, dass die Hamas eine faschistische, frauenfeindliche und radikal-islamische Organisation ist. Außerdem hat die Hamas seit ihrer Gründung das Ziel, den Staat Israel zu zerstören und ist von nationalsozialistischem Gedankengut beeinflusst, also als antisemitisch einzuordnen.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Man darf die israelische Politik zurecht für viele Dinge kritisieren: die Besatzung des Westjordanlands, die brutale Siedlungspolitik oder die Diskriminierung von Minderheiten. Dafür muss sich Israel Kritik gefallen lassen, wie jedes andere Land – aber eben auch nicht mehr. Warum sollten für Israel andere Maßstäbe gelten als für Deutschland oder Kolumbien? Auch hier muss man rassistische Politik und völkerrechtswidriges Handeln anprangern, aber niemand fordert, dass gleich das ganze Land verschwinden muss.
- Stattdessen ignoriert die Aussage, dass Israel durch die Vereinten Nationen völkerrechtlich anerkannt ist – die UN selbst hat 1947 die Gründung des Staates Israels vorgeschlagen – und dass die israelische Bevölkerung bei weitem nicht nur aus europäischen Juden und Jüdinnen besteht, sondern auch aus Menschen, die aus den arabischen und afrikanischen Ländern, der Türkei, dem Iran, Afghanistan und Pakistan flüchten mussten bzw. deren Nachkommen.
- Israel anzuerkennen bedeutet auch nicht, das Leid der Palästinenser*innen wegzuwischen: die Vertreibung von 700.000 Palästinenser*innen im Jahr 1948 aus ihren Häusern und Dörfern, die Gewalt gegen die Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen und natürlich, dass die Palästinenser*innen derzeit keine realistische Chance auf einen eigenen Staat haben.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Wo sollten die jüdischen Israelis Deiner Meinung nach hingehen?
- Warum sollen alle Nationen ein Recht auf einen Staat haben, aber jüdische Menschen nach Jahrhunderten der Verfolgung nicht?
- Sollte das Ziel nicht sein, dass beide Gruppen dort friedlich leben können?
Mythos 9: „Die Israelis sind genauso schlimm wie die Nazis.“
So kann es auch klingen:
„Die haben nichts aus ihrer Geschichte gelernt.“
Was daran problematisch ist
- Diese Aussage hat viele schwierige Aspekte. Beispielsweise erfüllt sie die Funktion, die Deutschen von ihrer historischen Verantwortung für den Holocaust zu befreien, indem sie sagt, dass die damaligen Opfer nun selbst zu Täter*innen geworden sind. Das ist hochproblematisch.
- Im gleichen Atemzug relativiert sie das unglaubliche Leid der Juden und Jüdinnen während der Shoah, indem sie den Massenmord der Nationalsozialisten mit dem militärischen Handeln des Staates Israel gleichsetzt.
- Drittens nennt sie Israel damit mindestens implizit einen faschistischen Staat – und produziert damit eine Haltung, die zu Gewalt gegen Israelis und Israel einlädt und sie legitimiert.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Antisemitische Einstellungen verschieben sich aktuell in Richtung israelbezogenem Antisemitismus: Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmen eine*r von vier Befragten folgender Aussage zu: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes, als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“
- Den Holocaust zu relativieren und die Opfer von damals zu Täter*innen von heute zu machen, ist extrem schmerzhaft für Überlebende und die Nachkommen von getöteten Juden und Jüdinnen.
- Rassismus ist auch in der israelischen Gesellschaft vorhanden und muss angesprochen werden – so wie in allen anderen Ländern der Welt. Dennoch stehen dieser, genauso wie die Schikane an den israelischen Checkpoints an den Grenzen zum Gazastreifen oder Westjordanland und Menschenrechtsverletzungen der Besatzung, in keinem Verhältnis zu den Rassegesetzen der Nazis. Die vielen Jahre der israelischen Besatzung haben sicherlich viel individuelles Leid für Palästinenser*innen geschaffen, dazu kommt die Terrorherrschaft der Hamas ( im Gaza Streifen) und die korrupte und antidemokratische Fatah ( in der Westbank), aber dennoch sind Gaza-Stadt oder Ramallah eben keine KZ wie Auschwitz oder Sobibor.
- Im Rahmen von Äußerungen fällt hier auch manchmal der Begriff des Genozids. Darüber gibt es eine ausführliche wissenschaftliche Debatte. Vieles spricht dagegen, zum Beispiel, dass Israel keine gesamte Bevölkerungsgruppe auslöschen will. Manchmal verfolgen solche Äußerungen aber auch die Strategie, das Vorgehen des israelischen Militärs mit dem Holocaust gleichzusetzen.
- Und schließlich hat die Aussage, so wie sie hier klingt, den Zweck, Opfer gegeneinander auszuspielen. So, als wären getötete Palästinenser*innen beklagenswerter als ermordete Juden und Jüdinnen.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Was glaubst Du, wie es Holocaust-Überlebenden und Nachkommen von ermordeten Juden und Jüdinnen geht, wenn sie diese Aussage hören?
- Warum ist es Dir wichtig, den Holocaust mit dem Handeln des israelischen Staates zu vergleichen?
Mythos 10: „Die Israelis töten absichtlich Kinder“
So kann es auch klingen:
„Kindermörder Israel“
Was daran problematisch ist
- Es ist eines der ältesten antisemitischen Stereotype: die Behauptung, dass Juden und Jüdinnen Kinder töten würden. Dieses Vorurteil wird auch Ritualmordlegende genannt und wirft Juden und Jüdinnen vor, sie würden zu Feiertagen christliche Kinder entführen, sie rituell töten und ihr Blut zur Herstellung von religiösen Speisen verwenden.
- An dieses uralte Vorurteil knüpft die Behauptung an, dass Israel gezielt Kinder und Frauen töten würde. „Kindermörder Israel“ ist deswegen ein in den sozialen Medien weit verbreiteter Begriff – anders als „Kindermörder Hamas“, obwohl die Hamas bei ihrem Anschlag am 7. Oktober Kinder getötet, gefoltert und entführt hat.
Das kannst Du dagegen sagen:
- Die israelische Regierung und das israelische Militär haben nicht das Ziel, insbesondere Kindern zu schaden. Dafür gibt es keinerlei Beweise.
- Es ist eine tragische Wahrheit: Im Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen erfahren Kinder großes Leid, auf beiden Seiten. Sie werden bei Militäraktionen und bei Attentaten auf Schulbusse und Kindergärten getötet, sie werden willkürlich festgenommen, mitgenommen, verhört und vor Militärgerichte gestellt. Das wird von israelischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen zu Recht scharf kritisiert.
- Es ist wahrscheinlich der schlimmste Fakt des aktuellen Krieges zwischen Israel und der Hamas: Seit dem Anschlag am 7. Oktober wurden Tausende Kinder getötet. Jedes Kind, das im Krieg stirbt, ist ein Kind zu viel. Völlig egal, welche Sprache dieses Kind spricht und welcher religiösen Gruppe es angehört.
So kannst Du darüber ins Gespräch kommen
- Sollte es nicht vielmehr darum gehen, die Würde aller Opfer zu wahren?
Umgangs- und Argumentationsstrategien: www.stopantisemitismus.de
Allgemeines Hintergrundwissen: https://www.anders-denken.info/
BDS-Broschüre der Bildungsstätte: https://www.bs-anne-frank.de/mediathek/publikationen/wer-ist-und-was-will-bds-eine-handreichung-zur-antiisraelischen-boykottbewegung
Safer TikTok. Strategien im Umgang mit Antisemitismus und Hassrede auf TikTok: https://www.bs-anne-frank.de/mediathek/publikationen/safer-tiktok-strategien-im-umgang-mit-antisemitismus-und-hassrede-auf-tiktok
Antisemitismus im Netz. Eine Argumentationshilfe: https://www.bs-anne-frank.de/mediathek/publikationen/antisemitismus-im-netz-eine-argumentationshilfe
Weltbild Antisemitismus: https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/content/Publikationen/Themenhefte/Broschuere_Weltbild_Antisemitismus.pdf
Antisemitische Bilder:
Bernstein, Julia & Diddens, Florian (2023): Antisemitische Kontinuitäten in Bildern.
Antisemitismus auf Social Media:
Hübscher, Monika & Sabine, von Mering (2022): Antisemitism on Social Media
Antisemitismus in der Sprache:
Schwarz-Friesel, Monika (2020): Judenhass im Internet
Bermann, Werner / Wyra, Ullrich (2011): Antisemitismus in Zentraleuropa. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt.
Bühl, Achim (2019): Antisemitismus: Geschichte und Strukturen von der Antike bis 1848. Marix Verlag: Wiesbaden.
Bühl, Achim (2020): Antisemitismus: Geschichte und Strukturen von 1848 bis heute. Marix Verlag: Wiesbaden.
Lipstadt, Deborah (2019): Antisemitism. Here and Now. Scribe: London.
Longerich, Peter (2023): Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute. Pantheon Verlag: München.
Nirenberg, David (2017): Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. C.H. Beck: München.
Roth, Markus (2023): Antisemitismus. Die 101 wichtigsten Fragen. C. H. Beck: München.
Steinke, Ronen (2020): Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt | Eine Anklage. Berlin Verlag.
Steinke, Ronen (2022): Antisemitismus in der Sprache: Warum es auf die Wortwahl ankommt. Duden.
Sznaider, Natan (2022): Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus. Carl Hanser Verlag: München.
Zimmer, Jürgen (Hrsg.) (2023): Erinnerungskämpfe: Neues deutsches Geschichtsbewusstsein. Reclam: Dietzingen.
Brumlik, Micha (2021): Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. VSA Verlag: Hamburg.
Mendel, Meron / Cheema, Saba Nur / Arnold, Sina (2022): Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen. Verbrecher Verlag: Berlin.
Mendel, Meron (2023): Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Kiepenheuer & Witsch: Köln.
Mendel, Meron (Hrsg.) (2023): Singularität im Plural. Kolonialismus, Holocaust und der zweite Historikerstreit. Beltz Juventa: Weinheim Basel.
Laumann, Vivien / Coffey, Judith (2021): Gojnormativität. Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen.
Rabinovici, Doron / Speck, Ullrich / Sznaider, Natan (2004): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Suhrkamp: Frankfurt.
Rabinovici, Doron / Speck, Ullrich / Sznaider, Natan (2019): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Suhrkamp: Berlin.